„Dass Assistenz auch in der Freizeit möglich ist, wissen viele Betroffene gar nicht“

Landrat Patrick Puhlmann beim gelungenen Auftakt für Stendaler Inklusionscafé.

„Mit Assistenz ist mein Alltag viel entspannter. Ich kann einkaufen, wo und wie viel ich will, nicht nur um die Ecke und mehr als ein paar Flaschen Wasser. Ich kann jemanden besuchen, wann ich möchte und im Sommer auch mal an den See, ohne darauf warten zu müssen, ob jemand dazu mal Lust hat.“ Annemarie Kock ist froh, dass sie nicht nur einen Menschen gefunden hat, der sie bei der Arbeit unterstützt. Auch Alltag und Freizeit haben sich für die junge Frau, die seit ihrer Geburt blind ist, völlig verändert. Seit vier Jahren wird die Beraterin der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB®) im Alltag begleitet. „Dass Assistenz auch in der Freizeit möglich ist, wissen viele Betroffene nicht. Auch mir ging es so.“ Ihr damaliger EUTB-Berater hat sie überzeugt, einen Antrag zu stellen und den Weg durch die Bürokratie auf sich zunehmen.

Heute ist Annemarie Kock selbst EUTB-Beraterin – und unterstützt Menschen nicht nur dabei, selbst eine Assistenz zu beantragen und über die Modelle der Umsetzung. Von ihren Erfahrungen hat sie nun am Montag im ersten Stendaler Inklusionscafé berichtet, das von ihr ins Leben gerufen wurde. Bei Kaffee und Kuchen erzählte sie in der Kleinen Markthalle in Stendal, die nur wenige Schritte von ihrem Beratungsbüro entfernt ist, von eigenen Erfahrungen. Gekommen waren Menschen, die selbst von Behinderung betroffen oder Angehörige von Betroffenen sind. Zu Gast war aber auch Patrick Puhlmann, Landrat im Landkreis Stendal.

Die Fragen waren vielfältig: Es ging um gesetzliche Grundlagen, um den langen Weg durch die Bürokratie, um Fallmanager, von denen sich manche Betroffene nicht ernst genommen fühlen, es ging um die Kosten und darum, wie sich das Leben durch Assistenz verändert. Annemarie Kock hat dafür das sogenannte Arbeitgebermodell gewählt, also ihre Assistenten selbst ausgewählt und eingestellt. Um auch das Dienstleistermodell vorzustellen, hatte sie zum ersten Inklusionscafé in Stendal den Muldentaler Assistenzverein eingeladen, der sich um Abrechnungen im Arbeitgebermodell kümmert, oder – zumindest in und um Leipzig – Assistenten vermittelt.

Besonders intensiv wurde über Assistenzsuche und Bürokratie gesprochen. „Der Bedarf an Assistenz ist sehr unterschiedlich – manche Betroffene benötigen nur zwei Stunden Hilfe in der Freizeit, andere wiederum 24 Stunden am Tag“, sagte Jörg Seliger, stellvertretender Vorsitzender des Muldentaler Assistenzvereins.

Annemarie Kock weiß: „Viele Betroffene scheuen sich vor den Antragsverfahren, weil sie zeitaufwändig sind und die Begegnung mit Bürokratie nicht einfach ist.“ Trotzdem ermutigte sie die Gäste des Inklusionscafés, den Schritt zu wagen, und empfahl, immer eine Vertrauensperson oder einen EUTB-Berater zu Antragsgesprächen mitzunehmen. Dass sich Mühe und Aufwand lohnen, macht die EUTB-Beraterin so deutlich: „Mit meiner Assistenz ist mein Alltag viel entspannter. Ich kann einkaufen, wann und wo ich will, und auch mal an den See fahren, wenn ich möchte und nicht, wann jemand Lust dazu hat.“ Sie betonte jedoch auch, dass der Weg bis zur funktionierenden Assistenz bei ihr ein Jahr gedauert habe: „Die Bewilligung ist das eine, passende Assistenzen zu finden, etwas anderes. Das ist ein Prozess, bei dem alle Beteiligten lernen müssen. Ich selbst habe für mich Zeit gebraucht, um zu wissen, was ich brauche und was ich möchte.“

Damit auch andere Betroffene Mut fassen, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen, soll das Inklusionscafé in Stendal zu einer festen Instanz werden. Alle drei Monate soll es weitere Treffen geben – mit immer anderen Themen. Das nächste Inklusionscafé am 16. Juni rückt das Thema „Arbeit und Behinderung“ in den Mittelpunkt – dann gemeinsam mit dem Integrationsamt und dem Integrationsdienst. Das sei eine gute Gelegenheit für den Erfahrungsaustausch unter Betroffenen, um Unterstützung und Beistand.